Eine alternative Haltung

Predigt am 10.11.24 (B/32) in Wertach

Ein älterer Herr erzählte mir, dass er gesundheitsbedingt gerne die Gottesdienste im Fernsehen mitfeiert. Aber, so sagte er mir, der Fernsehgottesdienst habe einen Nachteil: Er könne nichts in den Klingelbeutel werfen. Das war mir neu: Dass ich meine Opfergabe loswerden, dass ich etwas Geld in das Körbchen legen kann für die Bedürftigen, dies als Vorteil eines Gottesdienstes zu sehen, den ich in der Kirche mitfeiern kann? Jedenfalls hatte der Herr offenbar ein dringendes Bedürfnis, etwas zu spenden... Das ist natürlich sehr lobenswert.

Die arme Witwe im heutigen Evangelium (Mk 12,41-44) konnte keine Fernsehgottesdienste schauen. Sie kommt in den Tempel. Ob sie da beten oder Gottesdienst feiern will, das wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass es ihr ähnlich geht wie jenem älteren Herrn: Sie will unbedingt etwas in den Opferkasten werfen. Dabei wurde sie beobachtet – nicht von einer versteckten Kamera, sondern von Jesus. Und was Jesus da beobachtet, das regt mich zunächst einmal auf. Warum? Weil es in mir zwiespältige Gefühle auslöst: Einerseits spüre ich eine Bewunderung für diese arme Witwe, die offenbar äußerst arm gewesen sein muss, und trotzdem etwas in den Opferkasten wirft, das finde ich überaus großherzig, ja  bewundernswert. Gleichzeitig irritiert mich, dass die Frau etwas tut, was man eigentlich nicht tun darf: Wenn ich eh schon so wenig habe, dass es kaum für meinen eigenen Lebensunterhalt reicht, dann darf ich doch dieses Wenige nicht auch noch verschenken. Zumal es damals noch kein Bürgergeld gab wie in unserem Sozialstaat heute. Ist das, was diese arme Witwe da tut, nicht völlig unvernünftig, ja unverantwortlich? Und warum lobt Jesus dann diese Frau so sehr und stellt sie den Jüngern sogar als Vorbild vor Augen?

Was ist das Thema in diesem Evangelium? Worum geht es Jesus eigentlich? Was könnten wir daraus lernen? Denn wir, wir unterscheiden uns doch alle sehr von dieser armen Witwe: Zum einen weil wir alle mehr besitzen als zwei kleine Münzen, und zum anderen weil niemand von uns auf die Idee käme, seinen ganzen Besitz an Bedürftige zu verschenken. Was will Jesus uns sagen? Worin besteht in dieser Szene die Frohe Botschaft für uns heute? Augenfällig eine schwierige Frage…

Jesus rückt die Tat dieser armen Witwe ins Rampenlicht am Ende seiner vielen Reden, die uns das Markusevangelium überliefert: Als wollte er abschließend damit unterstreichen und unmissverständlich deutlich machen, auf welche Haltung es ihm ankommt. Es geht – wie so oft – nicht um eine konkrete Anweisung für unser Verhalten – wir müssen selber spüren, was wir in der jeweiligen Situation konkret tun können! –, sondern es geht um etwas viel Tieferes: Es geht um unsere Haltung, unsere innere Haltung, die uns letztendlich motiviert, so oder so zu handeln. Und diese Haltung, die Jesus uns vermitteln will, entspricht natürlich ganz und gar seiner eigenen Haltung, sie entspricht der Haltung Gottes. Und in dieser Haltung will Leben gelingen, in dieser Haltung will Leben sich entfalten, in dieser Haltung will das Leben lebenswert werden, diese Haltung will meinem Leben Sinn geben. Und was ist das nun für eine Haltung?

Nicht umsonst hörten wir heute in der zweiten Lesung aus dem Hebräerbrief (Hebr 9,24-28), dass unser Gott ein Gott ist, der alles in eine Waagschale wirft. Er ist ein Gott, der im Lebensopfer seines Sohnes sich selbst rückhaltlos und unüberbietbar verschenkt an uns Menschen. Die Opfergabe Gottes im Lebensopfer seines Sohnes ist so radikal und so unüberbietbar groß, dass diese Gabe die Kraft hat, die Welt zu erlösen von Habgier, Sünde und Tod. Zuvor hatten wir in der ersten Lesung (1 Kön 17,10-16) gehört von einer Witwe, die in einer lebensbedrohlichen Lage dem Wort des Gottgesandten Elija vertraut: Das allerletzte, was sie für sich und ihren Sohn noch zu essen hatte, das soll sie verschenken an diesen Propheten. Die Frau gehorcht und vertraut – und Gott lohnt ihr Vertrauen reich: Sie hatte schließlich im Überfluss, woran sie so hart Mangel litt...

Alle drei Schriftworte dieses Sonntags beschäftigen sich mit der Frage, wieso Geben wirklich seliger ist als Nehmen. Dieses Jesuswort zitiert die Apostelgeschichte

(Apg 20,35). Um diese Haltung geht es! Diese Haltung wird in allen drei Schrifttexten auf je eigenen Weise verdeutlicht: Es geht nicht darum, irgendetwas zu geben. Jesus beobachtet ja am Opferkasten auch, dass viele Reiche kommen und etwas in den Opferkasten werfen: Keineswegs nur eine Kleinigkeit, sondern sie gaben „viel“, heißt es. Das hat für Jesus aber nicht den geringsten Vorbildcharakter. Dass Reiche zur Linderung der Not der Armen auch viel spenden müssen, ist für Jesus offenbar selbstverständlich. Die Haltung, um die es Jesus geht, ist die Haltung, welche die arme Witwe in ihrer irrsinnigen Handlung überdeutlich macht: Auch wenn ich selber arm bin, bin ich so frei, zu verschenken, was ich habe – ohne für mich eine Rücklage zu bilden, ohne Sicherheit, ohne Berechnung, in einem nackten und uneingeschränkten Vertrauen – letztendlich in Gott, den Geber aller guten Gaben…

Morgen ist das Fest des hl. Martin. Er hat mit dem armen Bettler seinen Soldatenmantel geteilt. Ist nicht erstaunlich, dass dieser Heilige so beliebt ist? Denn seine Tat macht ja in ganz ähnlicher Weise wie die Taten der beiden Witwen, von denen wir heute hörten, deutlich: Geben ist seliger als nehmen. Damit liegen aber weder der hl. Martin noch die beiden Witwen im Trend unserer Zeit… Wir ChristInnen sind also eingeladen, mit dieser unserer christlichen Haltung ein echtes Alternativprogramm vorleben – und so das Reich Gottes wachsen zu lassen! Lockt und reizt uns das – gerade angesichts der in unserer politischen Gegenwart immer penetranteren Rufe nach Wohlstand und wirtschaftlichem Aufschwung? 

Geben ist seliger als nehmen. Etwas zu spenden, ist gut. Mehr zu spenden, ist noch besser. Aber letztlich geht es um die Haltung des Gebens – im Blick auf die unberechenbare Großzügigkeit Gottes: Er will uns alles schenken, was wir zum Leben brauchen. Dies macht meine Seele frei, dies schenkt mir eine innere Freiheit, die wertvoller ist als die vermeintlich beruhigenden Zahlen auf meinem Kontoauszug... Ja, Gott verschenkt sich selbst an uns in seinem Sohn: Genau das feiern wir übrigens in jeder Eucharistiefeier. Wir dürfen so frei sein, in diese Haltung immer mehr hineinzuwachsen – um als Zins dieser Investition das Leben zu gewinnen. Nicht erst das ewige... Amen.

Für die Menschenwürde

Predigt am 02./03.11.24 (B/31) in Mittelberg und Oy
 

Von den Schriftgelehrten berichten uns die Evangelien öfter. Jesus begegnet ihnen immer wieder. Er hinterfragt diese Schriftgelehrten. In aller Öffentlichkeit beschuldigt Jesus sie, dass sie den Sinn des Wortes Gottes verdunkeln und die eigentliche Botschaft den Menschen vorenthalten. Das ist eine harte Kritik. So waren die Schriftgelehrten keine Jesus-Fans… 

 

1. „Du bist nicht fern vom Reich Gottes!“ 

Insofern erstaunlich, dass im heutigen Evangelium ein Schriftgelehrter von Jesus gewürdigt wird mit den Worten: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ (Mk 12,34). Wow! Die Reich-Gottes-Botschaft steht ja im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu! Hier haben wir es also mit einem Schriftgelehrten zu tun, der offenbar verstanden hat, worum es Jesus geht und worauf es im Reich Gottes ankommt. So kann Jesus ihm am Ende des Gesprächs Nähe zum Reich Gottes attestieren… 

Wir Christinnen und Christen dürfen z.B. fragen, ob unsere gewählten PolitikerInnen dem Reich Gottes nahe sind. Ja, in nicht wenigen Punkten sind sie das: Denn im Reich Gottes haben alle Menschen von Gott her die gleiche Würde. Die unantastbare Würde eines jeden Menschen, die unser Grundgesetz im Artikel 1 festschreibt, muss immer wieder neu verteidigt und umgesetzt werden: Eine nicht selten schwierige Aufgabe für die gewählten VertreterInnen unseres Volkes. Migranten haben eine unantastbare Würde, Menschen der Geschlechterdiversität haben eine unantastbare Würde, Menschen mit Handicap haben eine unantastbare Würde, sozial Schwache haben eine unantastbare Würde, Kinder und alle Schutzbedürftigen haben eine unantastbare Würde, Menschen fremder Religionen haben eine unantastbare Würde… Was wir mit unserem christlichen Menschenbild begründen können, will in der pluralen Gesellschaft immer neu verteidigt und gelebt werden. Leider waren die christlichen Kirchen nicht immer Vorreiter oder wirksame Verfechter der Menschenwürde im Blick auf die genannten Personengruppen. Nicht selten haben die Kirchen unsere PolitikerInnen dabei allein gelassen. Dass unsere PolitikerInnen heute gegenüber den zunehmend aggressiven, gewaltbereiten oder extremistischen Gruppen unserer Gesellschaft um eine eindeutige Positionierung ringen zum Erhalt unserer Demokratie als Grundlage für die Menschenwürde aller, ist eine Entwicklung, die uns alle besorgt. Als ChristInnen sollten wir die Antwort, wie sie uns unser christliches Menschenbild ermöglicht, nicht für uns behalten… 

 

2. Die Frage nach dem ersten Gebot 

Aber wieder zurück zum Evangelium: Der Schriftgelehrte tritt an Jesus heran mit dieser Frage: „Welches Gebot ist das erste von allen?“ (Mk 12,28) Vielleicht hat sich Jesus über diese Frage des Schriftgelehrten gefreut. Scheint es doch bei all den vielen Geboten, die im Judentum von Bedeutung waren, eine Frage zu sein, die ins Zentrum führt, die klären und erleichtern kann: Worauf kommt es eigentlich an? Was ist Wesentlich? Worauf können wir uns fokussieren, wenn wir ans Ziel gelangen wollen? Was genau diesen Schriftgelehrten motiviert hat, nach dem ersten von allen Geboten zu fragen, wissen wir nicht. In gewisser Weise hat er Jesus einen Ball zugespielt, den Jesus mit seiner Antwort in einen Volltreffer verwandelt. Die Frage nach dem ersten Gebot will immer wieder auch unsere Frage sein: Was hat Vorrang? Wem gebe ich Priorität in meinem Leben? Worum will ich mich zuerst kümmern? Wie kann ich mich für die unantastbare Würde aller einsetzen? Was mache ich zum Kriterium meines Handelns? Lasse ich mich z.B. eher leiten von meinem Gerechtigkeitssinn, oder lasse ich mich leiten von einer übervernünftigen Barmherzigkeit, wie sie Jesus uns vorlebt? Die Frage nach dem ersten Gebot ist eine richtig gute Frage. Jesus lobt den Fragenden, indem er seine Frage ernst nimmt und direkt und ohne Zögern ganz konkret beantwortet… 

 

3. Die Liebe stellt uns in die Nähe des Reiches Gottes 

Und zwar antwortet Jesus diesem Schriftgelehrten mit einem Zitat aus der Schrift. Wir hörten ja heute bereits in der alttestamentlichen Lesung aus dem Buch Deuteronomium genau dieselben Verse (Dtn 6,4-5), die Jesus dann zitiert: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und … mit deiner ganzen Kraft“ (Mk 12,29-30). Vielleicht war der Schriftgelehrte zunächst enttäuscht. Denn diesen Vers kannte er seit seiner Kindheit. Hatte er von Jesus eine „spezielle“ Antwort erwartet? Jesus fügt allerdings noch etwas hinzu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12,31). Jesus kettet diese beiden Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe untrennbar zusammen: Keine Gottesliebe ohne Nächstenliebe. Und keine Nächstenliebe ohne Gottesliebe! Dieses Doppelgebot, das eigentlich nur ein Gebot ist bzw. das sich in zwei Seiten ein und derselben Medaille entfaltet, dieses Gebot ist das erste Gebot aller Gebote! Fallen beide Gebote auseinander, kann das Reich Gottes nicht wachsen. Wir könnten z.B. noch so fromm sein, wenn unsere Frömmigkeit aber das Herz nicht weitet und nicht dazu führt, dass ich z.B. Andersdenkende uneingeschränkt respektiere, ist meine Gottesliebe nicht echt. Oder wenn ich mich andererseits noch so stark einsetze für Migranten, dies aber nur der persönlichen Gewissensberuhigung dient und nicht in der Achtung vor Gott begründet ist, ist meine Nächstenliebe wertlos. Nur dann wenn das Gebot der Gottesliebe sowie das der Nächstenliebe zusammenklingen und –schwingen, kann das Reich Gottes wachsen... 

„Du bist nicht fern vom Reich Gottes“, würdigt Jesus jenen Schriftgelehrten. Er hatte gefragt nach dem ersten Gebot. Und er bekam die Antwort der Gottes- und Nächstenliebe. Fragen auch wir nach dem, worauf es uns heute ankommt. Hören und empfangen auch wir die Antwort Jesu. Und werden wir mit unserer untrennbaren Gottes- und Nächstenliebe zu Werkzeugen, ja zu Protagonisten des Reiches Gottes, in dem jede und jeder in einer uneingeschränkten Würde leben kann. 

Amen. 

Freude und Jubel

Predigt an Allerheiligen in Maria Rain

Längst ist es erforderlich geworden, dass wir in unserer heutigen Zeit Antwort geben können auf die Frage: Worin sehen wir denn den Mehrwert unseres Christseins? Warum lohnt es sich, den christlichen Glauben zu leben? Warum bin ich dankbar, als ChristIn leben zu dürfen? Früher war es in unserem Umfeld mehr oder weniger selbstverständlich, Christ zu sein. Viele fühlten sich zum Christentum zugehörig. Heute wenden sich viele ab – und wir, die wir noch übrig sind, werden angefragt: Warum wendet auch Ihr Euch nicht ab? Was ist für DICH der Mehrwert, wenn ich diese Fragestellung wiederholen darf, der Mehrwert des Christseins?

Ich wünschte, Sie alle, liebe Schwestern und Brüder, haben auf ihrem persönlichen Glaubensweg eine persönliche Gotteserfahrung gemacht. Gotteserfahrungen sind sehr unterschiedlich und sehr individuell. Aber letztendlich haben alle Gotteserfahrungen, wenn es den solche sind, eines gemeinsam: Ich kann hinter eine Gotteserfahrung nicht mehr zurück. Wer einmal seinem Gott persönlich begegnet ist, der weiß, warum er glaubt, warum ihr oder ihm der Glaube so wertvoll ist!

Neben der Bedeutung einer persönlichen Gotteserfahrung gibt es im Christentum natürlich viele Hinweise, die als mögliche Antwort auf die Frage nach dem Mehrwert unseres Glaubens gelten könnten. Einen für mich besonders schönen Hinweis gibt uns das heutige Fest Allerheiligen! Da verkündet die Kirche uns den Anfang der großen Bergpredigt Jesu: Die acht Seligpreisungen. Nachdem Jesus die Armen, die Sanftmütigen, die Barmherzigen und die Friedenstiftenden seliggepriesen hat, fasst er diese Aufzählung zusammen in einem Satz, der das heutige Fest auf den Punkt bringt: „Freut euch und jubelt: Denn Euer Lohn wird groß sein im Himmel.“

Freut euch und jubelt! Das ist Allerheiligen! Im Blick auf die große Schar derer, die auf je eigene und ganz individuelle Weise ihren Glauben gelebt und für ihren Glauben ein authentisches Zeugnis gegeben haben – das ist Heiligkeit!, im Blick auf diese Schar der Heiligen haben wir allen Grund, uns von Jesus auffordern zu lassen: Freut euch und jubelt! Im Blick auf den Himmel, der auf uns wartet: Freut euch und jubelt! Im Blick auf das ewige Leben, das uns Jesus erworben hat: Freut euch und jubelt! Im Blick auf die Überwindung von Leid, Krankheit, Angst und Tod: Freut euch und jubelt! Im Blick auf die ewige Freude, die in unserer Taufe bereits begonnen hat: Freut euch und jubelt! Ist das nicht ein echter Mehrwert unseres Christseins? Muss jemand, der ohne den christlichen Glauben lebt, nicht auch ohne diese Freude und diesen Jubel leben, weil ihm der Blick auf die Überwindung von Leid und Tod, auf das ewige Leben, auf den Himmel so nicht möglich ist? Allerheiligen öffnet uns wieder die Augen, warum unser christlicher Glaube ein so großer Mehrwert ist. Sind wir dankbar dafür! 
 
Und wenn wir schon hier und heute diese Freude und diesen Jubel feiern dürfen, wie viel mehr dann die Heiligen, die jetzt leben in einer großen Gemeinschaft voller Liebe, in einer Gemeinschaft mit Gott? Ich habe in meinen sieben Klassen letzte Woche gefragt, was wir ChristInnen denn feiern an Allerheiligen und Allerseelen. Wie zu erwarten, waren die Antworten mehr als ernüchternd. Unsere Heranwachsenden wissen es nicht. Auch die Schülerinnen, die Mitglied einer Musikkapelle sind und die heute Nachmittag auf einem Friedhof zum Einsatz kommen, hatten keine Ahnung, was eigentlich der Anlass ist dafür, dass die Musik spielt... 
 
Wir haben also, liebe Schwestern und Brüder, mehr denn je guten Grund, über unseren Glauben wieder mehr zu reden, nicht nur den jungen Menschen weiterzugeben, warum unser Glaube für uns ein Mehrwert ist! Freut euch und jubelt! 
 
Ich bedaure es jedes Jahr, dass wir das schöne Fest Allerheiligen weitgehend kaputt gemacht haben durch diesen komischen Brauch, den ich erstmals in Bayern erlebt habe, dass wir das Totengedenken des Allerseelentages, den die Kirche aus gutem Grund morgen im Anschluss an den heutigen Allerheiligentag begeht, auf den heutigen Festtag vorverlegen und gleich nach diesem Gottesdienst auf den Friedhof eilen. Das ist schade, das ist nicht gut. So wie ich auch nach dem Karfreitagsgottesdienst nicht sagen kann: Komm, wir feiern heute schon mal die Osternacht, dann müssen wir morgen nicht mehr kommen, so bräuchten wir auch den heutigen ganzen Tag, um heute wirklich Allerheiligen zu feiern: Freut euch und jubelt! Das hat zunächst nichts, aber auch gar nichts zu tun mit Tod und Grab. Im Himmel ist Party und heute dürfen und sollen wir uns einlassen und diese himmlische Party mitfeiern, so gut wir können: Freut euch und jubelt! 
 
Nach dieser heute gefeierten Freude und nach diesem heute gefeierten Jubel gedenken wir eigentlich morgen dann unserer Verstorbenen. Viele ChristInnen, die gleich am Friedhof stehen werden, lassen den Allerheiligengottesdienst aus. Und viele ChristInnen, die zum Ostergottesdienst kommen, lassen den Karfreitag aus. Merkt Ihr was? Mit einem so selektiv gelebten christlichen Glauben nehmen wir unserem Glauben vieles weg und verstehen die Zusammenhänge nicht mehr. Wir brauchen die gute Ordnung der Fest- und Gedenktage. Sie haben sich bewährt und unsere Kirche bietet sie uns an aus ihrer reichen Erfahrung heraus. Nur so können wir den wahren Mehrwert unseres Glaubens erkennen und uns immer neu bewusst machen. 
 
Darum lasset uns heute voll Freude Allerheiligen feiern! Die große Schar der Heiligen ist dort, wohin uns unsere Taufe und unser gelebter christlicher Glaube locken: In der Freude des Himmels. Deshalb können und dürfen auch wir der Einladung Jesu heute folgen: Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn im Himmel wird groß sein. Amen. 

Mit Bartimäus

Predigt am 27.10.24 (B/30) in Petersthal und Oy
 

Als Christinnen und Christen haben wir alle einen weltmissionarischen Auftrag, wir dürfen und können und sollen Salz der Erde sein und Licht der Welt. Das wird uns nicht nur am heutigen Weltmissionssonntag bewusst. Unsere Kirche, die heute ihren dreijährigen Synodalen Prozess abgeschlossen hat, hat seit dem II. Vat. Konzil ein viel stärkeres Bewusstsein für ihren weltmissionarischen Auftrag entwickelt. Und unser Papst Franziskus hilft uns, diesen zu verstehen und zu leben. 

Wenn uns im heutigen Evangelium (Mk 10,46-52) die Begegnung Jesu mit dem blinden Bartimäus erzählt wird, dann springen mir aus diesem Heilungsevangelium vier Schritte ins Auge, die uns wunderbar zeigen können, was unser weltmissionarischen Auftrag bedeutet. 

Ein erster Schritt: Wir müssen mit Bartimäus um Erbarmen schreien! Gut, Bartimäus hatte ein Problem, das wir so nicht haben: Bartimäus war blind, wir können sehen. Aber wie leicht sind wir blind gerade für das, worauf es jetzt ankommt: Ich kann natürlich nur weltmissionarisch tätig werden, wenn ich sehe, wo und wie mein Einsatz, mein Dienst, mein Engagement gebraucht wird. Ich darf nicht wegsehen, ich muss hinsehen. Genau das haben in den letzten drei Jahren die Synodalen in diesem großen Synodalen Prozess getan: Sie haben versucht, gemeinsam genau hinzusehen: Was ist unsere Situation? Wie ist unsere Lage? Wo braucht Gott uns heute? Wir alle kennen das Sprichwort: „Vier Augen sehen mehr als zwei.“ Viele Augen sehen mehr als wenige. Also ist wichtig, dass wir gemeinsam versuchen, gemeinsam hinzusehen. Und weil das überhaupt nicht einfach ist, wirklich gut hinzusehen und zu erkennen, wo und wie konkret Gott uns heute braucht, tun wir gut daran, wenn wir so demütig und so nachdrücklich sind wie Bartimäus und Jesus um sein Erbarmen bitten. Das ist der erste Schritt! Bartimäus hat sich nicht mundtot machen lassen von denen, die von seinem Rufen zunächst genervt waren. Im Gegenteil. Er hat noch lauter geschrien: Jesus, hab Erbarmen mit mir! Es ist nicht unsere Leistung, nicht unser Verdienst, es übersteigt unsere natürlichen Fähigkeiten, wenn wir diesen ersten wichtigen Schritt schaffen: Hinzusehen und zu erkennen, wozu Gott uns haben will inmitten dieser vielfach verwundeten Welt. Da sind wir angewiesen auf Gottes barmherziges Erbarmen. Wir dürfen also mit Bartimäus schreien: Jesus, hab Erbarmen mit mir! 

Der zweite Schritt: Wenn wir weltmissionarisch wirken, also diese unsere Welt verbessern und das Reich Gottes wachsen lassen wollen, dann brauchen wir Mut! Als Missionarinnen und Missionare der zärtlichen Liebe Gottes sind wir „anders“. Dieses Anderssein erfordert Mut! „Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich!“, wird Bartimäus schließlich ermutigt. Ja, wir müssen uns gegenseitig Mut zusprechen! Wie leicht resignieren wir oder denken: Ich kann sowieso nichts ändern... Das ist ein großer Fehler. Jede und jeder von uns ist ein unverzichtbares Werkzeug Gottes, um eine Welt des Friedens und der Gerechtigkeit zu errichten. „Hab nur Mut!“ Sind wir uns nicht zu schade, eine Ermutigung anzunehmen. Als Lehrer ist das für mich in der Schule eine meiner grundlegenden und hauptsächlichen Aufgaben, die mindestens so wichtig ist wie die Wissensvermittlung: Ich möchte die Heranwachsenden ermutigen! Jede Ermutigung tut gut! Viele junge Menschen sind stark verunsichert in unserer Welt, die so zerrissen ist, und in der es für einen Menschen, der bisher wenig Lebenserfahrung hat, fast unmöglich erscheint, sich den Weg in eine gute Zukunft vorzustellen. Aber nicht nur junge Menschen brauchen Ermutigung. Wir alle brauchen Ermutigung, wenn wir als Kirche und als einzelne weltmissionarisch wirken und so unserem Glauben Authentizität verleihen wollen. „Hab nur Mut!“ – das ist ein zweiter Schritt. 

In einem Familiengottesdienst hatte ich Kinder gefragt, ob sie uns das heutige Evangelium vorspielen würden. Ein Junge war bereit, den blinden Bartimäus zu spielen. Ihm wurden die Augen verbunden. Dann las ich langsam das Evangelium vor. Dann kam die Stelle: „Da warf Bartimäus seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.“ Jetzt konnte jeder sehen, was gemeint war. Der Junge sprang auf, warf seine Jacke weg und wagte einige schnelle Schritte auf Jesus zu, obwohl er nichts sehen konnte. Der Mantel war für Bartimäus nicht nur ein Kleidungsstück, sondern er war mehr oder weniger sein Zuhause, seine sichere Bleibe. Den Mantel wegzuwerfen, ist schon ein starkes Stück. Aber das entschlossene Zulaufen auf einen, den ich gar nicht sehen kann, ist doch besonders eindrucksvoll! Von Bartimäus können wir lernen, uns nicht festzukrallen an unserem „Mantel“, also an unseren Gewohnheiten und Sicherheiten. Von Bartimäus können wir lernen, die Stimme Jesu so sehr in uns aufzunehmen, dass wir mutig bereit sind, aufspringen und entschlossene Schritte zu wagen! So können wir den Menschen das bringen, was sie brauchen, das anbieten, was ihr Leben noch lebenswerter macht… Den Mantel wegwerfen und sich Jesus zuwenden! Dritter Schritt. 

Der vierte und letzte Schritt lautet: „Geh!“ Nachdem Jesus den Blinden geheilt hatte, kommt sofort dieser Auftrag: „Geh!“ Bartimäus hatte gar keine Zeit, lange zu überlegen, wie ihm geschah. Kaum hatte er sein Augenlicht geschenkt bekommen, schickt ihn Jesus nicht zurück in sein altes Leben, sondern er sagt ihm auf den Kopf zu: „Geh!“ Jede Eucharistiefeier schließt mit dem Sendungswort: „Gehet hin in Frieden.“ Nach allem, was wir hier gehört, gefeiert und empfangen haben, ist überdeutlich: Das haben wir nicht gehört, gefeiert und empfangen, um es für uns zu behalten. Nein. „Geht!“ Darauf kommt es an, dass wir uns in Bewegung setzen auf die Menschen zu, auf alle Menschen, die sich in ihrer jeweiligen Situation sehnen nach Gottes Liebe und nach Gottes Frieden! 

Lasst uns an Bartimäus ablesen, wie wir unseren Taufauftrag leben und immer mehr weltmissionarische ChristInnen sein können: Zuerst Gott um sein Erbarmen bitten, dann Ermutigung annehmen und andere ermutigen, danach vermeintliche Sicherheiten loslassen und sich entschlossen Jesus zuwenden und schließlich seiner Aufforderung „Geh!“ vertrauen. Amen. 

nach innen und nach außen

Predigt am Kirchweihsonntag, 20.10.24, in Petersthal, Maria Rain und KE St. Lorenz

Wir haben Christus weitgehend verloren und wir kreisen in unserer Kirche hauptsächlich um uns selber. Darum schrumpft die Kirche weiterhin drastisch. 
Dieser Analyse unserer gegenwärtigen Situation dürfen Sie gerne widersprechen. Oder lassen Sie mich im Blick an diesem Kirchweihsonntag diese zwei Behauptungen einfach in diese zwei Fragen packen: Wie nah ist uns Jesus Christus? Und Wie sehr sind wir bereit, an die Ränder der Kirche zu gehen? Schließlich: Kann es denn sein, dass an diesen beiden Fragen die Zukunft der Kirche hängt? 
 
Vielleicht erwarten Sie, dass ich einfache Lösungen anbiete im Blick auf den kontinuierlich voranschreitenden Schrumpfungsprozess unserer Kirche. Doch diese Erwartung ist unberechtigt, denn einfache Lösungen gibt es nicht. Was wir aber tun können in dieser Stunde der Kirche, ist dies: Gemeinsam überlegen, was die eigentliche, die wesentliche, die entscheidende Fragestellung ist, eine Fragestellung, die uns weiter bringt. 
 
Dass die Zukunft der Kirche an diesen beiden Fragen hängt: Wie nah ist uns Jesus Christus? Und: Wie sehr sind wir bereit, an die Ränder der Kirche zu gehen?, das lese und höre ich immer wieder aus der Botschaft unseres Papstes Franziskus. Als Jesuit ist unser Papst ein nüchterner Denker. Und im Blick auf die Situation der katholischen Weltkirche stellt er uns diese beiden Fragen vor: Wie nah ist uns Jesus Christus? Und wie sehr sind wir bereit, an die Ränder der Kirche zu gehen? Früher nannten wir das Sammlung und Sendung: Sammlung meint die Konzentration nach innen, also die ständige Bewegung auf Christus zu als den einzigen Quell unseres Lebens und Wirkens, und Sendung meint die Öffnung nach außen, also das Austeilen der barmherzigen und zärtlichen Liebe Gottes weit über die Ränder unserer Kerngemeinden hinaus. Wie nah ist uns Jesus Christus? Und wie sehr sind wir bereit, an die Ränder der Kirche zu gehen? Schauen wir doch an diesem Kirchweihfest diese beiden Fragen etwas näher an. 
 
Wie nah ist uns Jesus Christus? Das ist doch die Frage nach unserem ganz persönlichen Glaubensleben. Und diese Frage ist eben nicht nur meine Privatsache, sondern mein Glaubensleben hat Auswirkungen auf die Kirche. Wie bete ich? Wie betrachte ich das Wort der Heiligen Schrift? Versuche ich, mein Leben aus dem Evangelium zu erneuern? Pflege ich eine tägliche Zeit mit Gott? Wie feiere und empfange ich die Sakramente? Bin ich durchdrungen von dem Glauben an die unendliche Barmherzigkeit und Zärtlichkeit der Liebe Gottes? Was prägt mein Gottesbild? Gott will angebetet werden, erklärt Jesus der samaritischen Frau im heutigen Evangelium (Joh 4,19-24). Die Anbetung gemeint als eine Hochform des Betens: Zweckfreies Beten, absichtsloses Beten, keine Bitte und kein Dank, das schlichte Dasein vor Gott in seiner unendlichen Größe. Gott will angebetet werden. Und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten, sagt Jesus... Wie nah ist uns Jesus Christus? Ist meine Freundschaft mit Jesus gewachsen? Was ist mir diese Freundschaft wert? Bemühe ich mich um diese Freundschaft? Nur wenn wir uns einlassen auf diese Frage, wird unsere Kirche wieder lebendiger werden. Immer mehr Nichtchristen kommen in unser Land kommen. Einige junge Theologen fragten mich, ob durch diesen Zustrom an Nichtchristen das sog. christliche Abendland nicht gefährdet sei. Das christliche Abendland ist Vergangenheit, antwortete ich. Den Schrumpfungsprozess unserer Kirche zu ignorieren nützt genauso wenig, wie ihn zu beklagen. Auch die Suche nach denen, die daran schuld sein sollen, hilft uns nicht weiter. Weiter hilft unserer Kirche aber die Frage: Wie nah ist mir Jesus Christus? 
 
Und die zweite Frage: Wie sehr bin ich bereit, an die Ränder der Kirche zu gehen? Eine Kirche, die alle Kräfte in ihre Selbstverwaltung investiert, eine Gemeinde, die nur damit beschäftigt ist, sich selbst möglichst gut zu versorgen, hat ausgedient. Warum? Da denke ich gerne an unseren Papst Franziskus und an seine Art, das Evangelium zu verkünden. Er selbst geht nämlich an die Ränder der Kirche. Dabei macht er sich Kraft seines Amtes zum Anwalt der Menschheit. In seiner Enzyklika „Laudato si“ beispielsweise gibt er keine theologischen Antworten auf innerkirchliche Fragen, sondern er wagt Antworten auf die Fragen, die für das Überleben der Menschheit notwendig sind. In einer globalisierten Welt muss die Kirche lernen, sich immer mehr als Teil des Ganzen zu sehen und zu verstehen. Und die Kirche wird in dem Maß Beachtung finden, wie sie die Sorgen und Nöte aller Menschen achtet. So hatte es bereits das II. Vat. Konzil formuliert. Seine wiederholte Rede von den Rändern der Kirche unterstreicht unser Papst nicht zuletzt damit, dass er am Gründonnerstag die starke Christus-Geste der Fußwaschung als Ausdruck äußerster dienender Liebe nicht im Petersdom an kirchlichen Würdenträgern vollzieht, sondern Jahr für Jahr in ein anderes Gefängnis geht, um dort gefangenen Männern, Frauen und Jugendlichen, Christen und Nichtchristen die Füße zu waschen und diese Füße dann auch zu küssen. Unzählige Bilder finden sie davon im Internet… Wenn das keine Predigt ist…!? 
 
Gehen wir unseren Weg in die Zukunft der Kirche, die eine veränderte Kirche sein wird. In diesen Tagen endet der Synodale Prozesses, zu dem Papst Franziskus von 2021 bis 2024 eingeladen hatte. 356 Synodale, darunter 50 Frauen, tagen seit 30. September in Rom und werden am Samstag das Abschlussdokument vorstellen. Nicht alle Erwartungen werden erfüllt werden. Aber wir werden spüren, dass der Synodale Prozess des aufeinander Hörens und des gemeinsamen Hörens auf den Willen Gottes künftig zu einem erneuerten Selbstverständnis der Kirche gehören wird. D.h. dass wir neben der Verantwortung der geweihten Hirten auch den Glaubenssinn aller Getauften ernst nehmen und durch die Stimme Vieler den Willen Gottes für unsere Kirche entdecken können. Wir dürfen diesen Weg gemeinsam gehen und wir dürfen ihn getrost gehen, indem wir uns immer wieder fragen: Wie nah bin ich Jesus Christus? Und wie sehr bin ich bereit, an die Ränder der Kirche zu gehen? Amen. 

Umarmung

Predigt am 12./13.10.24 in Wertach, Schwarzenberg, Unterjoch
 

Bei einer Großveranstaltung in Buenos Aires hatte der damalige Erzbischof Jorge Mario Bergoglio, unser heutiger Papst Franziskus, die vielen Menschen aufgefordert, einander zu umarmen als Zeichen der Solidarität und der Geschwisterlichkeit. Man kann diese Szene sehen in dem Film „Ein Mann seines Wortes“, in dem Papst Franziskus ja der Hauptdarsteller ist. Ich frage mich, ob wir das hier auch mal versuchen sollten…? Was würde passieren, wenn ich Sie jetzt auffordere: „Bitte umarmt Euch!“? Diese Vorstellung weckt bei Ihnen vermutlich unterschiedliche Gefühle: Die einen finden das vielleicht schön, andere finden es eher unangemessen und sind bereits von dieser Vorstellung unangenehm berührt... 

 

Und ich bitte Sie noch um eine weitere Vorstellung: Sie begegnen Jesus. Vielleicht in einem Traum, der sehr real auf Sie wirkt und den sie lange nicht vergessen. Sie begegnen Jesus und Jesus kommt auf Sie zu und – umarmt Sie. Wie geht es Ihnen mit dieser Vorstellung? Was empfinden und fühlen Sie dabei? Ist das eher befremdlich? Oder tut es ihnen gut…? 

 

Was soll jetzt diese Frage, denken Sie vielleicht. Vermutlich ist Ihnen gar nicht aufgefallen, dass im Evangelium (Mk 10,17-27), das wir gerade gehört haben, Jesus einen jungen Mann umarmt (Mk 10,21). Das ist ja bemerkenswerter Weise auch ziemlich neu: 36 Jahre lang hatten wir in der Einheitsübersetzung von 1980 gehört, dass Jesus den jungen Mann, der ihn fragt, wie er das ewige Leben erlangen kann, ansah und ihn lieb gewann. In der Einheitsübersetzung von 2016, die wir inzwischen in unseren Gottesdiensten hören, gewinnt Jesus den Mann nicht mehr lieb, sondern er umarmt ihn! (In der “revidierten Einheitsübersetzung 2017“ heißt es wieder: er gewann ihn lieb…) Man möge staunen, wie doch Übersetzungen unterschiedlich sein können. Aber dazu später noch etwas mehr… 

 

„Die Zukunft unserer Kirche wird davon abhängen, ob der je einzelne wieder zu einem persönlichen und lebendigen Gottesbezug findet.“ So hatte es der jüngst verstorbene Dr. Hermann Wohlgschaft in einer Festpredigt in Kempten St. Franziskus formuliert. Und da bin ich wieder bei meiner Frage, ob Sie sich vorstellen können, von Jesus umarmt zu werden? Eine solche Umarmung von Jesus wäre doch ein deutlicher Ausdruck meiner persönlichen Beziehung, die ich mit Jesus pflege. Darum scheint mir die Frage, wie es mir mit der Vorstellung einer solchen Umarmung geht, hilfreich zu sein, um meine Beziehung zu Jesus zu überprüfen bzw. um diese wachsen zu lassen… 

 

Abgesehen davon, dass die alte Übersetzung dem griechischen Urtext meines Erachtens deutlich näher kommt und ich leider überhaupt nicht weiß, was die Übersetzer bewogen hat, diese Stelle „Jesus gewann ihn lieb“ neu zu übersetzen mit „Jesus umarmte ihn“, darf ich Euch nun verkünden, was ich 36 Jahren lang nicht verkünden konnte: Jesus ist ein Jesus, der umarmt! So etwas stand bisher nicht in unserer Bibel! Jetzt plötzlich: Jesus umarmt! Das verwundert mich nicht zuletzt auch deswegen, weil diese neue Übersetzung sechs Jahre nach dem sog. „Missbrauchsjahr“ 2010 erschienen ist. Seither haben wir in der Kirche viele Präventionsmaßnahmen gegen den sexuellen Missbrauch gelernt, die uns u.a. streng verbieten, Kinder und Jugendliche in irgendeiner Form zu berühren. Dennoch erlauben die Übersetzer unserem Jesus, einen fremden jungen Mann unvermittelt zu umarmen. Das möge man mal auf sich wirken lassen… 

 

Aber unabhängig von der Übersetzungsfrage: Ich halte das für ein äußerst starkes Bild! Nehmen wir also bitte die neue Übersetzung an und ernst und nehmen wir sie zum Anlass, dass wir uns hineinversetzen in diesen jungen Menschen, der zu Jesus kommt mit einer Frage, die fundamental ist: „Was muss ich tun, um das Leben zu erben?“ Wenn ich etwas freier übersetzen darf: „Wie kann mein Leben gelingen? Was brauche ich, um sinnvoll leben zu können? Wie kann ich den Mehrwert an Leben noch besser entdecken und gestalten? Wie kann mein Leben schließlich reifen zu einem überzeitlichen Leben?“ Dieser junge Mann war mutig, Jesus so grundlegend zu befragen, finde ich. 

 

Und was macht Jesus? Seine Antwort besteht darin, dass er zunächst und zuerst einmal Beziehung schafft, Beziehung aufbaut und seine persönliche Beziehung zu diesem jungen Menschen zum Ausdruck bringt: Er sieht ihn an mit Liebe – nach der alten Übersetzung – bzw. noch stärker in der neuen Übersetzung: Er umarmt ihn! Das, was Jesus dann zu ihm sagt, und wie der junge Mann dann darauf reagiert, ist doch für uns alle, die wir vergleichsweise „reich“ sind, recht dramatisch… Abgesehen davon fällt eines auf: Die unmittelbare Botschaft Jesu liegt nicht erst in seinem Wort, sondern zunächst und zuerst einmal in seiner Geste! Es ist die Geste der Umarmung, die er diesem jungen Menschen schenkt – als Ausdruck einer tiefen persönlichen Beziehung! 

 

Jede und jeder von uns ist dieser junge Mann im Evangelium. Jeder und jedem von uns gilt diese Umarmung Jesu. Jede und jeder von uns braucht diese Umarmung Jesu, behaupte ich. Mehr als alle Worte hat diese Umarmung Jesu, wenn wir sie zulassen, die Kraft, unser Leben zu verwandeln. Und die Kirche zu erneuern. Die Antwort Jesu auf die Frage nach dem Leben – ist seine Umarmung…! Amen. 

Ein schönes Fest?

Predigt zum Erntedank in Wertach (29.09.), Maria Rain und Oy (06.10.)
 

Das Erntedankfest hat einen hohen Stellenwert… 

Was wir an Erntedank feiern, sagt ja das Wort: Den Dank für die Ernte… 

In jeder Eucharistiefeier sprechen wir den Dank aus über Brot und Wein… 

Doch heute wollen wir zwei Dinge ganz bewusst tun: 

Wir wollen ganz bewusst die reiche Ernte anschauen und 

wir wollen ganz bewusst dafür danken!! 

 

Dass es eine Ernte überhaupt gibt, deuten wir im Glauben als Geschenk unseres 

Gottes. Ihn dürfen wir glauben als Schöpfer und Geber aller guten Gaben… 

Natürlich wissen wir auch um die Menschen, die diesen gottgeschenkten Gaben zur Reife verhelfen, sie schließlich ernten und so zubereiten, dass wir Menschen sie genießen können… 

Obst und Gemüse, Milch und Käse, Eier und Honig, Brot und Butter, Wein u. Bier... 

Ernten im weiteren Sinne dürfen wir aber auch die Früchte der handwerklichen Arbeit der vielen handwerklichen Berufe oder auch für die Früchte der geistigen Arbeit: So könnte auch ein Laptop den Erntedankaltar schmücken… 

 

Auch in diesem Jahr erinnert uns der Erntealtar daran, dass wir nicht nur das zum Leben Notwendige haben, sondern dass uns eine Menge an Erntegaben zur Verfügung steht, eine übergroße Menge. Der Erntedankaltar schaut in vielen Ländern unserer Erde, in denen unsere Mitchristen so wie wir Erntedank feiern, doch ganz, ganz anders aus. Wir schauen also ganz bewusst die reiche Ernte an! 

 

Und dann wollen wir danken. Das klingt so einfach. Sagen wir doch einfach „Danke!“, wie wir es als Kinder gelernt haben, wenn wir etwas geschenkt bekamen. Aber ist das wirklich so einfach mit dem Danken? 

 

Für mich ist Erntedank alles andere als ein einfaches Fest, so wunderschön der Anlass ist... Ich finde es nicht einfach, mir bewusst zu machen, dass ich zutiefst dankbar sein muss für den Reichtum der Schöpfungsgaben, denn ich lebe, seit ich denken kann, in einer Wohlstandsgesellschaft, ich lebe in einer Überflussgesellschaft, ich lebe in einer Konsumgesellschaft – ganz anders wie die meisten Mitbewohner unseres „gemeinsamen Hauses“, wie Papst Franziskus unsere Erde nennt. Auch auf die Gefahr, dass meine Predigt an dieser Stelle nicht mehr als „schön“ bezeichnet werden kann, drängt es mich, uns mit ein paar Zahlen zu veranschaulichen, warum wir nicht nur einen so großen Grund haben zur Dankbarkeit, sondern warum wir das Erntedankfest auch als Anruf verstehen sollten, unseren Lebensstil zu überdenken. 

Auf der Startseite der Welthungerhilfe lese ich, dass aktuell Hunger leiden 733 Millionen Menschen, also ziemlich genau jeder 11. Mitbewohner in unserem „gemeinsamen Haus“. Nachdem der Anteil der Hungernden prozentual einige Jahre lang abgenommen hatte, steigt er in letzter Zeit wieder deutlich an: Eine zutiefst traurige Tendenz… Vor allem sind von Unterernährung und ihren Folgeschäden Kinder betroffen – und zwar 148 Millionen. Im Jahr 2021 sind etwa 5 Millionen Kinder vor ihrem 5. Lebensjahr an Unterernährung verstorben. 

 

Fachleute sagen, dass unser Planet Erde 12 Mrd. Menschen satt machen kann. Derzeit sind wir 8,19 Mrd. Wenn wir jetzt die Welternte 2024 auf 8,19 Mrd. Teller gerecht verteilen würden: Was läge dann auf meinem Teller? Mit einer gerechten Aufteilung hat unsere Menschheitsfamilie allerdings massive Schwierigkeiten... 

Während die einen verhungern, werden in Deutschland jedes Jahr 11 Mio. Tonnen Lebensmittel verschwendet, in jedem Haushalt landen jährlich durchschnittlich 78 Kilogramm Lebensmittel pro Person in der Mülltonne. 

Die Regale in unseren Supermärkten sind so gefüllt, dass wir aus einer reichen Produktpalette auswählen können. Doch ich erschrecke immer wieder bei dem Gedanken, was mit den Lebensmitteln passiert, die nicht eingekauft werden… 

 

Erntedank ist ein wunderschönes Fest, davon möchte ich nichts wegnehmen… 

Erntedank stellt mir aber auch eine dringliche Frage: Was hindert mich, mein Konsumverhalten zu überdenken? In einer Gesellschaft, die von Wohlstand, Überfluss und Konsum geprägt ist und die immer noch nach Wachstum verlangt – wenn das nicht absurd ist...?! –, in einer solchen Gesellschaft ist Dankbarkeit doch irgendwie ein Kunststück: Dankbar darf ich sein für all das, was mir zusteht. Wo ich aber im Blick auf die Gesamtheit der Menschheitsfamilie über die Verhältnisse lebe bzw. so konsumiere, dass andere in der Folge dafür Mangel leiden müssen, ist das gewiss kein Grund zur Dankbarkeit… 

Erntedank ist der dringliche Aufruf, dass wir eintreten für eine gerechtere Welt, in der alle Menschen die Möglichkeit haben, einen Erntedankaltar zu gestalten mit genügend Erntegaben, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen… 

 

Ja! Lasst uns Gott danken! Wir sind reich beschenkt mit den vielen Gaben und Früchten, die wir wieder ernten und dank unserer Hände und des Geistes Arbeit genießen dürfen! 

Lasst uns Gott danken auch dafür, dass Jesus uns im Evangelium (Mk 10,17-26) so eindringlich warnt vor einem Reichtum, der am Nächsten vorbei sieht… 

Und lasst uns Gott danken, dass wir die Möglichkeit haben,  mehr und mehr so zu leben, dass alle ihren Anteil an den lebensnotwendigen Gütern unserer Erde erhalten und sich mit uns über eine gute Ernte freuen können. Amen.