„Der sexuelle Missbrauch ist wirklich schlimm,
schlimmer ist der Machtmissbrauch,
der geistliche Missbrauch aber ist am schlimmsten.“
So habe ich mich in den letzten Jahren immer wieder mal sagen hören. Und ich will mit diesem einleitenden Satz zunächst etwas provozieren.
Kann man ein so großes Thema in der hier gebotenen Kürze behandeln?
Ich begegne in den letzten Jahren immer wieder Menschen, die von diesem so weiten Thema des Missbrauchs mit seinen vielfältigen Auswirkungen auf je unterschiedliche Weise betroffen sind. Deshalb drängt es mich, dieses Thema nicht länger wegzuschweigen.
Sehr wohl bin ich mir bewusst, dass ich mich mit jeder Aussage angreifbar mache – nicht zuletzt aufgrund der stark komprimierten Formulierungen.
Gleichzeitig machen meine Ausführungen mich aber auch greifbar: Meine Gedanken sind das derzeitige Resümee meiner Erfahrungen. Nicht mehr. Und nicht weniger.
Und die biete ich gerne an jeder und jedem, der meine Erfahrungen mit seinen Erfahrungen abgleichen möchte. Nicht mehr. Und nicht weniger.
Wie sonst sollen wir gemeinsam weiterkommen mit diesem Thema? Soll es mich etwa den Rest meines Lebens beschäftigen…? Ich lade ein zum Austausch und freue mich über jede Rückmeldung!
1. Freiheit
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1)! Wenn Gott (hier: In Jesus Christus) ein Befreier ist, dann hat jede Glaubensgemeinschaft egal welcher Religion die Aufgabe, Menschen zur Freiheit zu befähigen und zu ermutigen.
Freiheit heißt nicht Beliebigkeit. Freiheit übersetze ich so: In der freien (d.h. liebenden) Bindung an Gott und/oder in der freien (d.h. liebenden) Bindung an eine Glaubensgemeinschaft bzw. Kirche mit ihren Werten und Geboten kann und will meine innere Freiheit wachsen. Religionsausübung will eine ständige Übung sein in der Zunahme an innerer Freiheit. Das sehe ich als göttlichen Auftrag für jede Religion.
Jede gesunde Frömmigkeit hilft mir, trotz des nahenden Todes – der größten „Unfreiheit“ unseres menschlichen Daseins – mein Leben in innerer Freiheit zu gestalten. Wir Christen wissen, dass Jesus Christus genau dazu für uns gestorben und von den Toten auferstanden ist. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1)! Nicht mehr. Und nicht weniger.
2. Missbrauch
Missbrauch ist das krasse Gegenteil: Nichts verhindert mehr die innere Freiheit, nichts widerspricht mehr dem Sinn von Religion und Kirche.
Darum beschämt mich jeder einzelne Missbrauchsfall. Gleichzeitig bin ich nicht unglücklich darüber, dass meine Kirche gezwungen wird, über Missbrauch nachzudenken bzw. sich dafür neu zu sensibilisieren – wenn auch der Anlass dazu mehr als nur tragisch ist.
Unglücklich bin ich allerdings, dass uns dieses Thema nun schon lange Zeit „überschattet“ und dass ich leider nicht sehen kann, dass wir es inzwischen so weit bearbeitet hätten, dass wir uns bald wieder den vielen anderen großen Themen uneingeschränkt zuwenden könnten. Nein: Wir stehen beim Thema Missbrauch noch ziemlich am Anfang…
3. Der sexuelle Missbrauch
Wer vom sexuellen Missbrauch innerhalb der Kirche betroffen ist, ist aus für mich nachvollziehbaren Gründen sehr unzufrieden mit dem Prozess der Aufarbeitung. Ich gehöre zu den vielen, die das extrem bedauern. Gleichzeitig bin ich dankbar für das, was wir gelernt haben.
Seit 45 Jahren mache ich Jugendarbeit. Mein Umgang mit Jugendlichen hat sich geändert. Früher war ich unbedarft oder auch manchmal unvorsichtig. Heute erkenne ich sinnvolle Grenzen viel schärfer. Es gibt auch Präventionsmaßnahmen, die mir übertrieben erscheinen.
Vor allem stört mich, dass das so leidige Thema vom sexuellen Missbrauch noch zu wenig als gesellschaftliches Thema gesehen und wahrgenommen wird. Ohne das Versagen in meiner Kirche nur im Geringsten schmälern zu wollen: Die Gesellschaft ist anscheinend noch nicht bereit, das Thema in seiner Breite anzuschauen. Sind unsere Minderjährigen in ihren Familien ausreichend geschützt?
Die Kirchen und andere Institutionen, die Jugendarbeit machen, sind noch lange nicht fertig. Aber sind nicht wir alle in dieser unserer Gesellschaft noch lange nicht fertig? Was kann uns helfen, wirklich weiterzukommen? Ich habe kein Patentrezept. Eines weiß ich: Wegschauen hilft sicher nicht...
4. Der Macht-missbrauch
Dass der Machtmissbrauch in meiner Kirche ein weiteres echtes Problem sein soll, habe ich lange Zeit nicht wahrhaben wollen. Auch ohne den sexuellen Missbrauch, der ja wohl der Auslöser war dafür, dass wir in der Kirche jetzt auch vom Machtmissbrauch reden, sehe ich hier inzwischen ein grundlegendes Problem. Ich bereue, wie ich als Pfarrer früher Entscheidungen oft im Alleingang getroffen und nicht zuletzt in Personalentscheidungen über Menschen geurteilt und entschieden habe.
Jeder Amtsinhaber muss sich fragen, ob er mit seinem Amt den Menschen dienen will, ob er bereit ist, im Blick auf das Wohl des je einzelnen gut hinzuhören und wichtige Entscheidungen mit geeigneten Beratern zu besprechen. Kooperationsbereitschaft, Teamfähigkeit und das Unterlassen von einsamen Entscheidungen sind für mich Kennzeichen einer Kirche, die mit Macht möglichst achtsam umgeht.
Leider begegnen mir immer wieder Christenmenschen, die hier von verschiedenen Amtsträgern schwer verletzt wurden oder verletzt werden. Das Kirchenrecht, das Macht erteilt, ist ein sinnvoller Rahmen. Aber der Rahmen ist noch nicht das Bild. Wir selber müssen dieses Bild ab-bilden, indem wir mit Macht so umgehen, dass jede und jeder seine uneingeschränkte Würde behält in ihrer und seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit.
Das kann mühsam sein, ist aber unverzichtbar. Das mag auch nicht immer gelingen. Aber die Bereitschaft dazu, die dürfen wir erwarten und einfordern.
Amtsträger haben besondere Verantwortung. Aber Herrschaftsansprüche daraus abzuleiten, ist eindeutig Missbrauch. Gehorsam einzufordern, ohne dass ein Prozess des gegenseitigen Hinhörens stattgefunden hat, ist eindeutig Missbrauch. Nicht mehr. Und nicht weniger.
5. Der geistliche Missbrauch
Ich schäme mich, dass ich mich vor 25 Jahren habe als „Seelenführer“ ansprechen lassen. Heute empfinde ich es als missbräuchliche Anmaßung, eine Menschenseele „führen“ zu wollen. Evangelisierung heißt Begleitung, sagt Papst Franziskus sehr deutlich. Früher wäre mir eine solche Definition „zu wenig“ gewesen. Heute sage ich: Genau das ist es! Nicht mehr. Und nicht weniger. SeelsorgerInnen haben die Aufgabe, Menschen, die ihr Leben auf Gott ausrichten wollen, in ihrer jeweiligen Lebenssituation zu begleiten. Nicht zu belehren.
Es erschüttert mich, wenn ich immer wieder höre, wie Seelsorger jene, die sich mit großem Zutrauen und Vertrauen an sie wenden, bevormunden oder mit religiösen Anweisungen gängeln. Das gibt es sicherlich in allen Religionen. Leider auch in meinem kirchlichen Umfeld. Ich bin dankbar, dass die Deutsche Bischofskonferenz dieses Problem erkannt hat und dem geistlichen Missbrauch den Kampf angesagt hat. Es wird nicht leicht werden. Es geht hier um die Haltung, in der SeelsorgerInnen in oft noch so guter Absicht und nicht selten in einem falsch verstandenen Sendungsbewusstsein Mitchristen mit frommen Ratschlägen nicht selten unmündig machen und unfähig, ihr Leben möglichst selbst zu gestalten – aus der Kraft des Glaubens sowie in der Bereitschaft, Eigenverantwortung zu übernehmen…
6. Verantwortung
Ich sprach eingangs von der Freiheit. Um die geht es. Und die gibt es (im Leben und im Glauben!) nicht ohne die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Manche religiösen Menschen sind starke Persönlichkeiten. Die sind weniger in Gefahr, Missbrauchsopfer zu werden. Nun gibt es aber auch viele „zarte Seelen“, die im Glauben Kraft und Stärkung suchen. Das ist ja sinnvoll und gut. Aber auch nicht ungefährlich. Wer evangelisieren will, wer andere auf dem Weg des Glaubens begleiten will, muss zur Eigenverantwortung ermutigen, ja diese herausfordern. Wie schnell entsteht ansonsten eine gewisse Abhängigkeit von der Person des Seelsorgers. Dies verhindert das Wachsen der Fähigkeit einer möglichst selbstbestimmten Lebensführung. Dabei werden manche frommen Seelen immer unfreier und unsicherer.
Gott hat uns als sein Ebenbild erschaffen, damit wir die von Gott gewollte und von Gott geschenkte Freiheit in uns zur Entfaltung bringen. Nicht mehr. Und nicht weniger. Darum ist das Maß der Eigenverantwortung eines gläubigen Menschen für mich ein unverzichtbares Kriterium für eine gesunde Frömmigkeit – die jedem Missbrauch trotzen kann.